Das Zusammenspiel von Selbstwert, Selbstvertrauen und Urteilsfähigkeit im musikalischen Werdegang

Um in der Musik wirklich ein gewisses Niveau zu erreichen, braucht es weit mehr als Talent. Neben Ausdauer und Disziplin – etwa dann zu üben, wenn man eigentlich keine Lust hat – spielt vor allem die innere Haltung eine entscheidende Rolle. Denn im Laufe des Lernprozesses wird der eigene Selbstwert immer wieder herausgefordert, geprüft und neu definiert.

Einige typische Situationen, die viele Musiklernende erleben, sind etwa:

  1. Man hat fleißig geübt, doch sobald man im Unterricht spielt, klappt plötzlich nichts mehr, und man fühlt sich völlig unfähig.
  2. Man hat viel Zeit und Energie in die Vorbereitung eines Wettbewerbs investiert, und trotzdem bleibt das erhoffte Ergebnis aus. Zweifel kommen auf: „Vielleicht habe ich einfach kein Talent.“
  3. Man sieht, wie andere scheinbar mühelos Fortschritte machen oder Chancen bekommen, während man selbst trotz täglicher Anstrengung stagniert.

Was vielen nicht bewusst ist: Diese Momente gehören für Musiker*innen ebenso selbstverständlich zum Weg wie Tonleitern und Etüden.

1. Warum Scheitern im Unterricht normal ist

In meinem musikalischen Werdegang und über fünfzehn Jahre Unterrichtserfahrung habe ich immer wieder die Aussage gehört, dass Schüler behaupten, im Unterricht schlechter zu spielen als zu Hause. Das ist kein Ausnahmefall, sondern beinahe die Regel. Vielleicht gelingt in etwa fünf Prozent der Fälle die Wiedergabe im Unterricht wirklich so gut wie im Übezimmer. In allen anderen Fällen hängt das Ergebnis stark von der Tagesform ab, zum Beispiel davon, ob man müde ist oder unter Stress steht, sowie von der Konzentration, der Kontinuität und der Qualität der Vorbereitung.

Entscheidend ist daher nicht, in der Unterrichtsstunde perfekt zu sein, sondern anzuerkennen, dass Perfektion selten unmittelbar erreicht wird und dass sie im eigentlichen Sinne auch gar nicht das Ziel des Lernprozesses ist.

Übung für Leser*innen: Notiere nach jeder Unterrichtsstunde zusätzlich zu den inhaltlichen Vorschlägen drei Punkte, die gut gelaufen sind, und einen Punkt, den du verbessern könntest. Reflektiere, ob dir die Umsetzung dieses Mal besser gelungen ist als beim letzten Mal und welche Übestrategie dir helfen könnte.

2. Misserfolge als Teil des Prozesses

Wer den musikalischen Weg ernsthaft verfolgt, kommt an Wettbewerben nicht vorbei. Doch kein Mensch gewinnt immer. Jeder Mensch erlebt Rückschläge, auch außerhalb der Musik, und gerade sie prägen unsere innere Haltung uns selbst gegenüber und unser Selbstwert.

Als Lehrerin und selbst ehemalige Teilnehmerin zahlreicher Wettbewerbe weiß ich, wie wichtig es ist, in solchen Momenten wirklich zu verinnerlichen, dass dies nur ein Schritt auf dem eigenen Weg ist. Es bedeutet nicht, dauerhaft oder vollständig gescheitert zu sein, sondern zu erkennen, dass man erfolgreich sein wird, wenn man nicht aufgibt und beim nächsten Mal strategischer vorgeht.

Diese Haltung bildet den Kern dessen, was man heute als „Resilienz“ bezeichnet, die psychische Widerstandskraft, die jede Musikerin und jeder Musiker dringend benötigt. In meinem Unterricht lege ich großen Wert darauf, Studierende gezielt dabei zu begleiten, diese Fähigkeit zu entwickeln.

Übung für Leser*innen: Denke an einen kürzlichen Rückschlag zurück. Notiere, was du daraus gelernt hast und welche Kompetenzen du dadurch entwickelt hast. Überlege außerdem, welche kleinen Anpassungen du beim nächsten Mal vornehmen könntest.

3. Vergleich und Selbstwert(Selbst-Bewusstsein)

Sich mit anderen zu vergleichen und sich dabei unzulänglich zu fühlen, betrifft uns alle. Manche werden dadurch angespornt, andere beginnen zu zweifeln und möchten aufgeben. Meine Aufgabe als Lehrerin besteht darin, Schüler*innnen dabei zu unterstützen, eine realistische Selbstwahrnehmung zu entwickeln: zu verstehen, wo sie stehen, was sie wirklich wollen und wie sie ihre Ziele auf sinnvolle, machbare und strategische Weise erreichen können. 

Denn wahres Selbstvertrauen entsteht nicht durch Erfolge, sondern durch das Bewusstsein, sich selbst ehrlich einzuschätzen und Schritt für Schritt weiterzugehen. Dabei entwickeln sich Kompetenzen, die man selbst möglicherweise gar nicht wahrnimmt oder für möglich hält. Das ist Selbstbewusstsein.

Übung für Leser*innen: Schreibe auf, welche drei Fähigkeiten du in den letzten Monaten entwickelt hast, ohne dich mit anderen zu vergleichen. Reflektiere, wie sie dir helfen, deine Ziele zu erreichen.

Der Weg zur inneren Stärke

All diese wiederkehrenden Herausforderungen und Erfahrungen formen unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten zu begegnen, und stärken unsere innere Widerstandskraft. Wenn wir lernen, konstruktive Kritik von bloßem Lärm zu unterscheiden und durch reflektiertes Nachdenken herauszufinden, was uns wirklich weiterbringt, gewinnen wir zunehmend Klarheit über uns selbst und Vertrauen in unser Handeln.

An diesem Punkt wird Selbstvertrauen spürbar: Es ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern das bewusste Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Entscheidungen und den eigenen Weg.

Takeaway: Resilienz, Selbstbewusstsein und Urteilsfähigkeit wirken sich gegenseitig aus und entwickeln sich hauptsächlich durch gelebte Erfahrungen, sowohl positive als auch negative. Gerade aus Misserfolgen lernen wir besonders viel, weil man Erfolg oft fälschlicherweise als „alles perfekt“ wahrnimmt.

Wer bereit ist, aufmerksam hinzusehen, bewusst zu reflektieren und sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, erlebt, wie seine innere Stärke allmählich wächst und an Stabilität gewinnt.