Gefahren des autodidaktischen Klavierlernens online

Warum Urteilsvermögen heute wichtiger ist denn je – ein Blick aus der Perspektive einer professionellen Musikpädagogin

In den letzten Jahren hat sich die Art und Weise, wie Menschen ein Instrument lernen, grundlegend verändert.
YouTube, Instagram und TikTok haben eine neue Generation von „Online-Lehrer*innen“ hervorgebracht – leicht zugänglich, sympathisch und scheinbar kompetent.

Doch in einer Zeit, in der Informationen überall verfügbar sind, wird Urteilsvermögen zur entscheidenden Fähigkeit:
Wie unterscheidet man zwischen wertvollem Wissen und gefährlicher Vereinfachung?
Und was passiert, wenn autodidaktisches Lernen auf falschen Grundlagen aufbaut?


Falsches Lernen – eine unterschätzte Gefahr

Ohne kritisches Denken ist es heute leicht, Halbwissen oder falsche Methoden zu übernehmen.
Für Hobbyspieler*innen ist das vielleicht harmlos.
Doch für jene, die ernsthaft eine musikalische Karriere anstreben, kann ein falscher Ansatz zu langfristigen Schäden führen – technisch, körperlich und mental.


Beispiel 1: Fehlgeleitete Dynamik

Ein Klavierlehrer verbreitete kürzlich auf Social Media die Empfehlung, beim leisen Spielen den Oberkörper näher an die Tasten zu bringen und beim lauten Spielen wieder zurückzugehen.

Für Laien mag das zunächst einleuchtend wirken – technisch ist es auf Dauer jedoch grundlegend falsch. Vielleicht scheint (nicht klingt) die Musik durch die Körpersprache lebendiger, aber das Entscheidende wurde dabei völlig übersehen:
die Finger, aus denen der Klang entsteht.

Es wurde gar nicht erklärt, wie man sich einen ästhetischen Klang überhaupt vorstellt und was genau in Fingern, Handgelenk, Arm, sogar beim Zuhören geschehen muss, damit ein wirklich schöner Ton entsteht.

Jede professionell ausgebildete Musiker*in würde das sofort erkennen.


Beispiel 2: Das Missverständnis beim Terzenspiel

Ein amerikanischer Student von mir schickte mir kürzlich ein Video einer populären „Influencer-Klavierlehrerin“.
Thema des Videos: die Technik der Terzen, etwa wie sie in Chopins Etüde Op. 25 Nr. 6 vorkommen.

Obwohl diese Influencerin einen Abschluss einer amerikanischen Musikhochschule besitzt, war ihre Erklärung stark vereinfacht, und ihre eigene Spieltechnik offenbar ebenfalls eingeschränkt.

Erfahrene Pädagog*innen und Musiker*innen wissen:
Technische Probleme sind individuell.
Was bei einem Schüler funktioniert, kann beim nächsten völlig andere Ergebnisse zeigen.
Wer ausschließlich über Online-Videos lernt, riskiert, sich falsche Bewegungen anzueignen, die später – nach meiner Erfahrung – in rund 80 % der Fälle kaum noch korrigierbar sind.

Übrigens: Ich studiere derzeit Musikphysiologie in an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, und alle dortigen Kolleg*innen betonen immer wieder die gravierenden langfristigen Folgen schlechter motorischer Gewohnheiten.

Über die Entwicklung von Urteilsvermögen

Ich ermutige meine Schüler*innen ausdrücklich, selbstständig zu lernen, denn es gibt so vieles, das man wissen und entdecken kann, wenn man gut musizieren möchte. Außerdem findet man im Internet zahlreiche hochwertige Inhalte, die das eigene Lernen wunderbar unterstützen können.

Doch ohne die Fähigkeit, Qualität zu erkennen, kann Fleiß leicht ins Gegenteil umschlagen.
Man lernt dann mit großem Engagement, aber in die falsche Richtung, mit dauerhaften Folgen.

Urteilsvermögen wächst durch Erfahrung, Reflexion und Kontextwissen.
Solange man die Zusammenhänge zwischen Körper, Klang, Psyche und Technik nicht wirklich verstanden hat, ist es schwer, den Wert einer Information zu beurteilen.

Ich erinnere mich gut an meine Studienzeit an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover:
Täglich war ich von erstklassigen Professor*innen und neuen Ideen umgeben.
Und dennoch brauchte ich Zeit, um zu erkennen, welche Informationen meiner musikalischen Entwicklung wirklich dienten, und welche nur akademisch interessant, aber praktisch nutzlos waren.

Heute, im Austausch mit Kolleg*innen an europäischen Musikhochschulen, sehe ich immer wieder:
Selbst im akademischen Umfeld ist nicht jede Lehrkraft pädagogisch kompetent.
Das Lernen, zu unterscheiden, ist vielleicht die wichtigste Lektion auf dem Weg zur Professionalität.

💡 Tipp: Wenn man sich in einem bestimmten Bereich nicht gut auskennt, kann man zunächst recherchieren, wer die betreffende Person ist und welche Ausbildung sie absolviert hat – also ob sie durch ein anerkanntes Studium oder eine fundierte Berufsausbildung qualifiziert wurde. Ein weiteres gutes Zeichen für Fachkompetenz ist, wenn diese Person regelmäßig zu Veranstaltungen, Vorträgen oder Konzerten in ihrem Fachgebiet eingeladen wird. Auch daran lässt sich oft erkennen, wie anerkannt und geschätzt jemand innerhalb der Fachgemeinschaft ist.

Professionelle Pädagog*innen vs. Influencer-Selbsthilfevideos

Der Unterschied ist grundlegend:

  • Professionelle Lehrkräfte verfügen über eine fundierte musikalische Ausbildung, jahrelange Unterrichtserfahrung und ein tiefes Verständnis für individuelle Lernprozesse.
    Sie investieren ihre Zeit in ihre Schüler*innen – nicht in Algorithmen.
  • Influencer-Lehrer*innen hingegen haben oft eine unklare oder unvollständige Ausbildung, gewinnen aber durch Präsentation, Trends und Reichweite schnell an Popularität.

Was auf den ersten Blick wie eine günstigere Alternative wirkt – „Ich spare mir den Unterricht!“ – kann langfristig deutlich teurer werden.
Denn die Kosten, schlechte Gewohnheiten zu korrigieren, sind weitaus höher als die Investition in eine fundierte Ausbildung von Anfang an.

Vor allem, wenn es um eine wirklich gute Lehrkraft geht, lernt man in kürzester Zeit viel effizienter, hat mehr Spaß daran und kommt schneller voran als bei jemandem, der vielleicht nur sagt: „Spielt bitte nochmals“ oder „Übt einfach mehr!“


Schlussgedanke

Selbstständiges Lernen ist großartig – aber nur, wenn es von kritischem Denken begleitet wird.
Urteilsvermögen ist im digitalen Zeitalter keine Option, sondern eine Notwendigkeit.
Gerade für Musiker*innen gilt:

Nicht alles, was im Internet plausibel klingt, ist wahr oder nützlich.

Natürlich, muss man mir ja gar nicht glauben 😉


Über den Autorin

Jui-Lan Huang ist Pianistin und Klavierdozentin am Schubert Konservatorium Wien. Sie wurde an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover ausgebildet.
Sie unterrichtet international und vertieft derzeit im Rahmen eines Studiums in Wien ihre Kenntnisse in Musikphysiologie und Musikpsychologie.
Ihr besonderes Interesse liegt in der Verbindung von Klaviertechnik, mentalem und körperlichem Bewusstsein sowie der Klanggestaltung. Darüber hinaus teilt sie regelmäßig ihre Erkenntnisse und praxisnahen Tipps auf Threads sowie in ihrem eigenen Blog, um Musiklernende weltweit bei effektivem Lernen und gesundem Üben zu unterstützen.

Das Zusammenspiel von Selbstwert, Selbstvertrauen und Urteilsfähigkeit im musikalischen Werdegang

Um in der Musik wirklich ein gewisses Niveau zu erreichen, braucht es weit mehr als Talent. Neben Ausdauer und Disziplin – etwa dann zu üben, wenn man eigentlich keine Lust hat – spielt vor allem die innere Haltung eine entscheidende Rolle. Denn im Laufe des Lernprozesses wird der eigene Selbstwert immer wieder herausgefordert, geprüft und neu definiert.

Einige typische Situationen, die viele Musiklernende erleben, sind etwa:

  1. Man hat fleißig geübt, doch sobald man im Unterricht spielt, klappt plötzlich nichts mehr, und man fühlt sich völlig unfähig.
  2. Man hat viel Zeit und Energie in die Vorbereitung eines Wettbewerbs investiert, und trotzdem bleibt das erhoffte Ergebnis aus. Zweifel kommen auf: „Vielleicht habe ich einfach kein Talent.“
  3. Man sieht, wie andere scheinbar mühelos Fortschritte machen oder Chancen bekommen, während man selbst trotz täglicher Anstrengung stagniert.

Was vielen nicht bewusst ist: Diese Momente gehören für Musiker*innen ebenso selbstverständlich zum Weg wie Tonleitern und Etüden.

1. Warum Scheitern im Unterricht normal ist

In meinem musikalischen Werdegang und über fünfzehn Jahre Unterrichtserfahrung habe ich immer wieder die Aussage gehört, dass Schüler behaupten, im Unterricht schlechter zu spielen als zu Hause. Das ist kein Ausnahmefall, sondern beinahe die Regel. Vielleicht gelingt in etwa fünf Prozent der Fälle die Wiedergabe im Unterricht wirklich so gut wie im Übezimmer. In allen anderen Fällen hängt das Ergebnis stark von der Tagesform ab, zum Beispiel davon, ob man müde ist oder unter Stress steht, sowie von der Konzentration, der Kontinuität und der Qualität der Vorbereitung.

Entscheidend ist daher nicht, in der Unterrichtsstunde perfekt zu sein, sondern anzuerkennen, dass Perfektion selten unmittelbar erreicht wird und dass sie im eigentlichen Sinne auch gar nicht das Ziel des Lernprozesses ist.

Übung für Leser*innen: Notiere nach jeder Unterrichtsstunde zusätzlich zu den inhaltlichen Vorschlägen drei Punkte, die gut gelaufen sind, und einen Punkt, den du verbessern könntest. Reflektiere, ob dir die Umsetzung dieses Mal besser gelungen ist als beim letzten Mal und welche Übestrategie dir helfen könnte.

2. Misserfolge als Teil des Prozesses

Wer den musikalischen Weg ernsthaft verfolgt, kommt an Wettbewerben nicht vorbei. Doch kein Mensch gewinnt immer. Jeder Mensch erlebt Rückschläge, auch außerhalb der Musik, und gerade sie prägen unsere innere Haltung uns selbst gegenüber und unser Selbstwert.

Als Lehrerin und selbst ehemalige Teilnehmerin zahlreicher Wettbewerbe weiß ich, wie wichtig es ist, in solchen Momenten wirklich zu verinnerlichen, dass dies nur ein Schritt auf dem eigenen Weg ist. Es bedeutet nicht, dauerhaft oder vollständig gescheitert zu sein, sondern zu erkennen, dass man erfolgreich sein wird, wenn man nicht aufgibt und beim nächsten Mal strategischer vorgeht.

Diese Haltung bildet den Kern dessen, was man heute als „Resilienz“ bezeichnet, die psychische Widerstandskraft, die jede Musikerin und jeder Musiker dringend benötigt. In meinem Unterricht lege ich großen Wert darauf, Studierende gezielt dabei zu begleiten, diese Fähigkeit zu entwickeln.

Übung für Leser*innen: Denke an einen kürzlichen Rückschlag zurück. Notiere, was du daraus gelernt hast und welche Kompetenzen du dadurch entwickelt hast. Überlege außerdem, welche kleinen Anpassungen du beim nächsten Mal vornehmen könntest.

3. Vergleich und Selbstwert(Selbst-Bewusstsein)

Sich mit anderen zu vergleichen und sich dabei unzulänglich zu fühlen, betrifft uns alle. Manche werden dadurch angespornt, andere beginnen zu zweifeln und möchten aufgeben. Meine Aufgabe als Lehrerin besteht darin, Schüler*innnen dabei zu unterstützen, eine realistische Selbstwahrnehmung zu entwickeln: zu verstehen, wo sie stehen, was sie wirklich wollen und wie sie ihre Ziele auf sinnvolle, machbare und strategische Weise erreichen können. 

Denn wahres Selbstvertrauen entsteht nicht durch Erfolge, sondern durch das Bewusstsein, sich selbst ehrlich einzuschätzen und Schritt für Schritt weiterzugehen. Dabei entwickeln sich Kompetenzen, die man selbst möglicherweise gar nicht wahrnimmt oder für möglich hält. Das ist Selbstbewusstsein.

Übung für Leser*innen: Schreibe auf, welche drei Fähigkeiten du in den letzten Monaten entwickelt hast, ohne dich mit anderen zu vergleichen. Reflektiere, wie sie dir helfen, deine Ziele zu erreichen.

Der Weg zur inneren Stärke

All diese wiederkehrenden Herausforderungen und Erfahrungen formen unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten zu begegnen, und stärken unsere innere Widerstandskraft. Wenn wir lernen, konstruktive Kritik von bloßem Lärm zu unterscheiden und durch reflektiertes Nachdenken herauszufinden, was uns wirklich weiterbringt, gewinnen wir zunehmend Klarheit über uns selbst und Vertrauen in unser Handeln.

An diesem Punkt wird Selbstvertrauen spürbar: Es ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern das bewusste Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Entscheidungen und den eigenen Weg.

Takeaway: Resilienz, Selbstbewusstsein und Urteilsfähigkeit wirken sich gegenseitig aus und entwickeln sich hauptsächlich durch gelebte Erfahrungen, sowohl positive als auch negative. Gerade aus Misserfolgen lernen wir besonders viel, weil man Erfolg oft fälschlicherweise als „alles perfekt“ wahrnimmt.

Wer bereit ist, aufmerksam hinzusehen, bewusst zu reflektieren und sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, erlebt, wie seine innere Stärke allmählich wächst und an Stabilität gewinnt.